Es ist Donnerstagabend, der 22. April, um 22:30 Uhr. Vor dem Mercedes-Benz-Werk in Ludwigsfelde stehen einige Hundert Beschäftigte. Ein paar tragen rote Jacken mit einem kleinen IG Metall-Emblem auf der Brust. Andere haben über ihrer Alltagskluft gelbe Warnwesten geworfen, die im Licht der Scheinwerfer aufleuchten. Seit 22 Uhr stehen die Kolleg:innen hier, wärmen sich an Kaffee und Bratwurst oder an einer Feuertonne, aus der der ikonische Stern, das Markenzeichen ihres Arbeitgebers, gefräst wurde. Sie werden die ganze Nacht hier stehen.
Die IG Metall hat sie zum Warnstreik aufgerufen. Die komplette Schicht ist dem Aufruf gefolgt. Alle Zugänge zum Werk sind dicht. Nicht nur hier am Südtor, wo sich die meisten versammelt haben, an allen Toren stehen Beschäftigte und passen auf, dass niemand den Streik bricht. Die Mercedesangestellten sind damit nicht allein. Bereits seit einer Woche sind überall im Osten der Republik die Arbeiter:innen in den großen Metall- und Elektrobetrieben immer wieder im Ausstand. Die Arbeitsniederlegungen sind dabei nicht nur symbolischer Natur. Der angekündigte 24-Stunden-Streik trifft eines der größten Unternehmen in der Region spürbar. Und so soll das auch sein. Denn hier geht es um eine der massivsten Ungerechtigkeiten der Nachwendezeit: Auch 31 Jahre nach der Wiedervereinigung müssen die Beschäftigten in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie jede Woche drei Stunden länger arbeiten als im Westen. Deshalb will die IG Metall in Brandenburg, Berlin und Sachsen in der laufenden Tarifrunde mit der Forderung nach einem Tariflichen Angleichungsgeld (TAG) die schrittweise Angleichung durchsetzen.
Als die Nachricht kam, dass bei Benz in Ludwigsfelde gestreikt wird, war mir klar, dass ich als LINKER Bundestagsabgeordneter dorthin muss. Schon als im letzten Herbst die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und im Nahverkehr die Arbeit niederlegten, war ich bei fast jeder Kundgebung in der Region dabei. Habe in der Früh mit meinen Genoss:innen Kaffee gekocht, und Brezeln mitgebracht, die wir an die streikenden Müllarbeiter:innen von der Stadtentsorgung oder den Busfahrer:innen von den Potsdamer Verkehrsbetrieben verteilten. Schließlich waren sie es, die während der ganzen Zeit der Pandemie weiterarbeiteten. Sie hatten verdient, dass ihre Forderungen nach ordentlicher Bezahlung ernstgenommen werden, und sie hatten es verdient, dass es Politiker:innen gibt, die gerade in solchen Auseinandersetzungen an ihrer Seite stehen.
Also rief ich kurzerhand Isabelle Vandre, meine Kollegin aus dem Brandenburger Landtag, an und stieg mit ihr ins Auto nach Ludwigsfelde. Man hatte uns gesagt, wir könnten auch zur Kundgebung am nächsten Tag kommen. Da sei dann vermutlich auch Presse da. Aber wir wollten gerade bei der ersten Schicht sein, die in den Ausstand gehen würde. Und so kommen wir kurz nach 22 Uhr in Ludwigsfelde an. Auch ein paar Genoss:innen vom Stadtverband und der linksjugend [‘solid] Teltow-Fläming sind kurzfristig gekommen. Ich gebe IG Metall-TV ein Interview, halte eine kurze Rede, in der ich den Kolleg:innen Mut zuspreche. Als wir nach gut zwei Stunden wieder in die dunkle Nacht fahren, merke ich: Die Entschlossenheit der Kolleg:innen lässt Hoffnung in mir aufkeimen, dass 30 Jahre nach der Wende endlich die Zeit für die Angleichung von Löhnen, Arbeitszeiten und Renten gekommen ist.